Meine Verwandschaft besteht tollerweise aus den verschiedensten Menschen. Da meine Mutter nochmal geheiratet hat, brachte mein Stiefvater einen riesigen Rattenschwanz an tollen Verwandten in die Familie mit ein. Früher nervte mich es immer ein wenig, wenn wir „aufs Land“ fuhren, um sie zu besuchen. Sie wohnten allesamt in kleinen Dörfern rings um meine Heimatstadt verteilt. Sie lebten auf Bauernhöfen, in großen und kleinen Häusern. Eine Schwester meines Stiefvaters lebte in einer Molkerei und produzierte dort bis zum kapitalistischen Umbruch 89/90 Käse. Und es war meistens stinklangweilig. Schön waren aber immer die Feierlichkeiten, wenn alle 8! Geschwister mit Anhang und Kinder zusammenkamen. Das war eine Meute, unglaublich.
Auf so einer Party fragte mich mal mein Onkel, der bis auf sein kleines Dorf nicht viel gesehen hatte: „Marcus, wenn man dir in Chemnitz die Augen verbindet und dich irgendwo in Chemnitz aussetzt, dir dann die Augenbinde abnimmt, würdest du dann wieder nach Hause finden?“ Ich meinte klar doch. Warum auch nicht? Schließlich kennt man fast alle großen Straßen Versorgungsadern der Stadt. Und wenn man mal in einer Nebenstraße ist, trifft man spätestens nach fünf Minuten auf die erste Straße, die man kennt und die einen nach Hause oder zumindestens in die Richtung führen kann.
Damals begriff ich nicht, was sein Problem war. Später erzählte mir mal meine Mutter, dass der Onkel mit Ehefrau in die Stadt zum Einkaufen gefahren war und einfach von der Vielzahl an Straßen, Geschäften und möglichen Richtungen absolut überfordert war. Und es war wirklich so. Er hatte Angst vor der großen Stadt. Er konnte sich in ihr nicht orientieren, alles war fremd, alles war hektisch, alles war unruhig.
In Jena wiederrum fällt das nicht so auf. Die Stadt ist einfach zu klein, fast dorfartig. In Berlin oder Köln wird das Gefühl aber wieder intensiver. Außerdem fällt es einen klassischen Stadtmenschen wesentlich leichter sich in einer größeren Stadt einzuleben als einem Kleinstadt- bzw. Dorfbewohner.
Dabei gibt es aber noch ganz andere Dinge, die Dorf- von Stadtmenschen unterscheiden. Ich merkte es daran, dass einige Verwandte, die bei uns in der Stadt zu Besuch waren und ebenso bei uns übernachteten, häufig klagten, dass sie nicht einschlafen konnten, da bei offenen Fenster die Stadt die ganze Nacht rauscht. Und umgekehrt ist es genauso. Als ich meinen Urlaub in der Provinz verbrachte, fehlt mir dieses Rauschen. Dieser Pulsschlag der Lebendigkeit. Dieser leichte Druck in den Trommelfellen.
Aber was soll dieser Beitrag eigentlich? Ich weiß es nicht. Es musste einfach mal raus.
17.08.2006 at 10:57
Wieso diese Frage am Schluss, keine Sorge. Das mit dem Rauschen hat mir schonmal jemand erzählt, aber der kam aus Berlin. vielleicht hättest du die vermuteten Erlebnisse deines Onkels in der Stadt noch ein wenig ausführlicher beschreiben können, oder seinen dörflichen Hintergrund noch genauer. Das finde ich interessant, weil es mitten in Deutschland einem Stamm von Ureinwohnern in Kolumbien ähnelt.