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Die Mär vom Social Bookmarking

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Der Aufschrei war groß und hält noch an als gestern Abend eine inoffizielle Information in die Kanäle des Webs schwappte. Im Rahmen von – sagen wir mal grob – Umstrukturierungen plant yahoo die Schließung von delicious:

Part of our organizational streamlining involves cutting our investment in underperforming or off-strategy products to put better focus on our core strengths and fund new innovation in the next year and beyond.

Die Gründe gehen wie immer etwas unter. Das Marketing-Sprech sagt, wie zu erwarten war,  etwas von Neuausrichtung, Straffung des Portfolios usw. Der Hintergrund dieser Neuausrichtung und der somit beinhaltenden Abstoßung eines unprofitablen Dienstes folgt für mich aus der Analyse des Dienstes seitens selbst. Dessen so eingestandene Schwachstellen zum einen bei delicious selbst zu suchen sind als auch generell die Idee des Social Bookmarkings betreffen. Warum ersteren aber nicht von yahoo begegnet wurde, um damit eventuell auch die grundlegenden Probleme des Social Bookmarkings anzugreifen, erschliesst sich mir nicht.

Schwachstellen des delicious

delicious war der erste ernstzunehmende Social Bookmarking-Dienst, der wirklich die Bezeichnung „Webanwendung“ verdient hatte und schlug zu seinem Start 2003 bereits hohe Wellen. Vielen Menschen wurde zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich zum erstem Mal vor Augen geführt, was es mit Webanwendungen und dem später auftauchenden Begriff „cloud computing“ auf sich hatte und demnächst haben könnte.  Gleiches galt für die bis heute wunderbare Idee des „tagging“, das dem Ordner-System bis heute überlegen bleibt, wenn gleich es auch nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Jedoch ist es für so vieles grundlegend – folksonomy, gmail, hashtags – und gewann im Zuge von delicious und flickr an Popularität. Trotz dieses fast grandiosen Starts und der im Jahre 2005 stattfindenen Aquisition seitens yahoo ist es traurig, dass delicious nie den Sprung in das Social Web geschafft hat. Klar kann man fragen: Warum? Taucht doch in jeder Buttonsammlung, um Links weiterzuverbreiten, ein delicious-Symbol auf. Es scheint sich zu zeigen, dass bloße Allgegenwärtigkeit auf Newsseiten, Blogs und Social Networks, stetige Namensnennung als Web2.0-Anwendung und vormaliges Klassenprimusdasein als social bookmarking-Tool längst nicht ausreichen, um überleben zu können.

1. Wo blieb die Erweiterung der cloudbasierten Linkverwaltung?

Delicious hat es verpasst sich dieser amorphen Social Media-Web2.0-Masse anzupassen. Bei den wesentlichen Grundfunktionen wie eine cloud-basierte Verwaltung der Links, um von überall darauf zugriff zu haben, hat sich seit Jahren nichts geändert. Wo bleiben ein paar innovative Ideen für die ebenso zu Links gewordenen anderen Dokumentenarten wie pdfs (Versuche sieht man ja derzeit bei misterwong, auch wenn das viel SEO-Denke dahintersteht), mp3s (vgl. „Die mp3 als URL“) oder auch Präsentationen, Videos, tweets usw. Sicherlich kann man all das abspeichern und sharen: als Link. Jedoch nur als Link ohne Berücksichtung des Linkinhalts, der entscheidend für den Umgang und seine Darstellung innerhalb des delicious-Ökosystems wäre. Somit sind auch die Wiedereinbindungmöglichkeiten in Blogs oder auf Social Media-Plattformen bescheiden. Alles bleibt ein Textlink mit tags.

Wo ist die Screenshotfunktion? Es ist klar, dass Seiten verschwinden, sich ändern. Ein Bookmark muss ein perfektes Abbild der Information bleiben, die ich ursprünglich speichern und sharen wollte. Und so sollte er auch in drei, vier und zehn Jahren in gleicher Weise aufrufbar sein. Nichts. Ein optionales Feature, auf das vermutlich zahlreiche Nutzer seit Jahren warten. Furl konnte das, der Nachfolger Diigo bietet dies unbegrenzt gegen Geld an. Delicious hätte mit der Power von yahoo im Hintergrund Ähnliches mit Leichtigkeit implementieren können.

Über neue Impluse im Sinne der statistischen Auswertung des Linksharings, der visuellen Darstellung des Contents usw. will ich hier noch gar nicht sprechen.

2. Wo blieb die Anbindung an das Web?

Auch der Redistribution von Links zurück ins Web blieben kaum neue Funktionen. Für Blogger wird die Möglichkeit geboten, Linksammlungen automatisch in das eigene Blog einzubinden – nur wie? Mal ganz abgesehen vom umständlichen Setup-Prozess ist es nicht einmal möglich, die zu übersendenen Links auszuwählen oder auch den Zeitpunkt genauer zu bestimmen. Wenn neue Links gespeichert werden, knallt delicious sie komplett einmal täglich ins Blog. Warum gab es diese Funktion nicht auch für anderen Sammelplätze des Webs: Facebook, twitter usw.? Es soll ja auch Menschen ohne richtiges Blog geben? Auch der müde Versuch eine Verbindung zwischen Ökosystem „delicious“ und anderen wie twitter, facebook etc. zu schaffen… uninspiriert. Es wirkt als hätte man dies einfach aus purer und logischer Notwendigkeit umgesetzt worden, ohne die Systeme der anderen wirklich verstanden zu haben. Was dabei rauskam, ist ein schlichtes „Send To“ im Tagging-Fenster. Es wäre natürlich nun interessant, da das delicious-Team gerade an einer Umstellung arbeitete (Stichwort: sharing share), zu sehen, was sich da in den nächsten Monaten getan hätte.

3. Gab es jemals Community-Manager?

Delicious hat es nicht geschafft, eine Antwort auf die Frage zu finden, ob ich Links für mich oder für andere tagge. Woran merkt man das? Die Community, die in dieser Webanwendung steckt, kennt sich nicht. Verfolgt ernsthaft jemand die Linkliste eines anderen Mitgliedes? Wie auch? Es wird einem ja auch kaum nahegelegt, wie auch die Benutzer nicht wirklich dazu „erzogen“ wurden, ihre Links sauber zu taggen, zu beschreiben, um aus delicious mehr zu machen als einen Linkhalde, sondern etwas, das mit GoogleBuzz oder gar twitter bzw. tumblr in Konkurrenz treten kann: als ernstzunehmendes Contentparadies für den neuen Menschen des Netzes, der mit seinem tiefen Interesse an Digitalität wirklich wichtige Infos – zum Teil auch abseits die Google-Algorithmus‘ – Bedeutung verschafft. Zwar ist das Prinzip des genuin sozialen Prozesses in delicious völlig integriert – man bookmarkt nie nur für sich – nur sind sich die wenigstens dessen bewusst. Delicious war der erste Dienst, der das irgendwie mal praktisch in die Tat umsetzen konnte.

Probleme des Social Bookmarkings generell?

Gehen wir mal davon aus, delicious hätte all die von mir so dahin geforderten Features? Alles wäre schön. Mitnichten. Social Bookmarking-Anwendungen wären genauso in der Krise – delicious auch. Es ist ja nicht so, dass delicious-Alternativen meine bisherigen Kritikpunkte umgehen können. Viele der Features fehlen oder besitzen auch bei MisterWong, Digg, StumbleOn, Reddit, Zootools, diigo usw. nur eine rudimentäre und noch unausgereifte Umsetzung. Was uns zum Problem selbst führt. Social bookmarking-Tools gehören seit ihrer Geburt zu einer dem häufigsten überschätzen Kategorien der Web2.0-Anwendungen. Natürlich dürfen sie in keiner Auflistung (conversation prism) oder Einführung1 fehlen. Ich bin viel im Web unterwegs. Delicious ernsthaft als social media-Marketingistrument zu bezeichnen, grenzt an Blödheit und traut sich heute auch kaum einer mehr. Ich habe aber keine Ahnung, was in manchen Agenturen noch so abgeht.Es ist allenfalls eine bequeme Funktion Inhalte zu speichern, jedoch kein Aufmerksamkeitsgenerator. Dafür eignen sich GoogleBuzz, aber vor allem Twitter und Facebook besser.

Gleich nach der Frage der Aufmerksamkeit., stellt sich somit die Frage nach Monetarisierung. Lese ich Bastian Karwegs kurzes Statement auf netzwertig richtig, so ist dies ein Branchenproblem:

Zwar hat man mit entsprechender Reichweite und sehr niedrigen Kosten für die Content-Generierung durchaus Möglichkeiten der Werbevermarktung, aber gerade die ist eher auf Sand gebaut, wenn man bedenkt, dass der Traffic solcher Seiten zu über 85% von Longtail-Suchergebnisseiten bei Google stammt.

Mit Social Bookmarking lässt sich offenbar auf Dauer nur schwerlich Geld verdienen, auch wenn es häufig nur geringe Personalkosten gibt. Auch Versuche Bezahlmodelle zu etablieren, kämpfen derzeit mit ihrer Profitabilität. Social bookmarking ist ein Mehrfrontenkrieg. Zum einen werden sie bedrängt durch Dienste wie Evernote oder box.net, die mit einem leicht anderen Fokus die Verwaltung von Informationen für den Nutzer extrem erleichtern und es kein großere Schritt mehr ist auch eine geeignete Sharing-Funktion zu entwickeln, die der von social bookmarking-Diensten nahekommt. Viel Schlimmer wirkt sich aber die Bedeutung von twitter, facebook und zum Teil auch GoogleBuzz aus. Links werden heute auf diese Weise geshared, weil hier das Herz der Communities schlägt, weil hier Aufmerksamkeit entsteht, weil hier die Tanzfläche ist, auf der getanzt wird, und nicht der Schuhschrank, wo die Schuhe auslüften können. Über die Hälfte des Linkcontents wird über Facebook, twitter und – man glaubt es kaum – über Email geshared. Alle „Bookmarkspezialisten“ sind dabei eher kleine Mitspieler.

Somit verliert auch eine weitere Stärke diese Dienste an Bedeutung: die Social Search mit Hilfe der „wisdom of the crowd“ bzw. dem beliebten Schlagwort „folksonomy“, die eh‘ schon unter der mangelnden Kontextualisierung der Linkfunde seitens der Nutzer litt bzw. mit dem Problem des unkontrollierbaren Vokabulars der Verschlagwortung zu kämpfen hatte. Soziale Suche wird 2010 offenbar nicht mehr als Suche mit bookmarking-Diensten verstanden, sondern als direkte Suche in twitter und facebook – wie die Twitter-Suche bei google oder das Projekt social search beweisen.

Das offenbare Aus für delicious hat mich kurz geschockt, aber im zweiten Moment ist mir klar geworden, dass dies webtypische Veränderungen sind, die sich notwendigerweise so entwickeln mussten. Social Bookmarking-Anwendungen werden vermutlich in Zukunft integraler Bestandteil aller Webanwendungen werden, Linklisten sind dann nicht mehr nötig. Es liegt nichts mehr auf Halde, man sucht nur noch schnell. Man sucht auch keine Website mehr. Man sucht nach Wissen.

Wem das alles noch bisschen zu schnell geht und seine Linklisten behalten möchte, für den gibt es hier eine kleine Übersicht der Alternativen, falls in Sunnyvale bald der Stromstrecker der delicious-Server gezogen wird.

Update: Offenbar bleibt alles erstmal wie gehabt. Delicious wird nicht geschlossen, sondern sucht sich eine neue Familie. Böse ist nur die vermutlichen hohen Abwanderungsraten zu anderen social bookmarking-Diensten im Hinblick auf diesen PR-Gau. Weiterhin ein wundervoller Artikel von Markus Spath bei hackr zum Knacks im Kopf bei delicious. (17.12.2010–12:58)

  1. Hettler, Uwe: Social Media Marketing. Marketing mit Blogs, sozialen Netzwerken und weiteren Anwendungen des Web 2.0, München: Oldenburg 2010, S. 58-60. []

2 Kommentare

  1. und dabei bin ich erst vor einem guten Jahr, als furl (quasi) dichtmachte zu deliciuos gewechselt.

    Vielleicht sollte ich das auch noch zu Google verlagern – und auf deren pure Größe vertrauen. Allerdings hatte ich das damals von Yahoo auch erhofft.

    Und auch bei Google werden gelegentlich unwirtschaftliche/überflüssige Dienste eingestellt.

  2. Man sieht doch, dass alle Daten weiterhin verschiebbar sind … alles kann irgendwo, irgendwie exportiert, importiert usw. werden. Gerade in einem solchen Fall wie delicious, bei dem so viele betroffen sind, gibt es immer einen Weg.

    Ich sehe es so. Man sucht die Plattform mit dem besten environment für einen; ein Gütekriterium in Form von „Wie lange wird es überleben?“ ist schwierig einzuschätzen und verdirbt den Spaß.

    Es gibt ja für alle delicious-User recht tolle Neuigkeiten. Sie schließen nicht. Sie suchen ein neues zu Hause: http://blog.delicious.com/index.htm

    Also alles bleibt wie gehabt. Irgendwie. Nur mit weniger Nutzern bei delicious.

Kommentare sind geschlossen.

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