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Kategorie: Allgemein (Seite 1 von 77)

Glühspuren

Es gibt am Stadtrand von Tübingen eine Gegend, die ich häufig besuchte. Das Wort „Gegend“ klingt schon viel zu ausladend. Es ist eher ein Ort. Ein kleiner Ort. Bahngleise sind zwischen Feldern eingequetscht. Hier und da hat ein geschäftstätiger Schwabe ein kleines Stück Land verpachtet, auf dem energiegeladene Menschen aus der Kernstadt dem kargen Feldboden ein paar Beete abgerungen haben. Behelfsmäßig wurde auch eine Bank aufgestellt. In den mitgepachteten Obstbäumen muss immer eine Schaukel hängen. Flatterband grenzt die frei stehenden Parazellen von der Umwelt ab.

Zum beginnenden Spätsommer, wenn die Felder abgeerntet wurden, duftet es an diesem Ort so intensiv nach Stroh und Heu, dass man fast betäubt wird. Der beste Platz an diesem Ort ist dabei inmitten auf einem staubigen Schotterweg. Am Rand wiegen sich die Gräser im noch hitzigen Wind Süddeutschlands. Man blickt in Richtung Westen. Man blickt auf die Auen des Neckartals, die so saftiges Gras haben, dass es kaum zu glauben ist.

Die Sonne geht hier hinter einer moderaten Bergkette unter. Es sind fast keine Berge. Man blickt im Prinzip auch auf die Grenze von Protestantismus (Tübingen) und Katholizismus (Rottenburg), die sich hier kaum merklich – trotzdem existent – durch die Landschaft schlängelt. Ich kannte diesen Ort von meinem Fitnessbemühungen der Tübinger Jahre. Ich lief regelmäßig durch das Neckartal vorbei an den Gräsern, über die saftigen Wiesen und trat an guten und fitten Tagen zum Katholizismus über, bei dem ich aber oft nicht lang verweilte. Auch jenseits der Laufstrecke besuchte ich diesen Ort oft und wollte den Sonnenuntergang beobachten. Ich schaffte es selten. Stattdessen beobachtete ich nur das Verglühen des Tages, wenn die Sonne schon hinter den Hügeln ist und langsam an Kraft verliert.

Die Wohnung der tausend Böden

All euren Kitschvorwürfen nun einmal standhaltend, denke ich, war dieser Ort am Rande der Stadt in dieser Zeit mein Platz, um die Gedanken ein wenig zu ordnen. Ich war zu diesem Zeitpunkt schon allein in Tübingen. Katze weg, Wärme weg und selbst Schuld. Guten Freunden erzählte ich immer wieder die Geschichte der Trennung. Wie ich an einem Tag hunderte von Kilometer von Tübingen nach Leipzig und zurück fuhr und auf der A6 so heftig schluchzend „Heavy Seas of Love” von Damon Albarn hörte, dass ich anhalten musste.

Zurück in Tübingen schritt ich nun manchen Spätnachmittag allein über die zahlreichen Fußböden der ehemals gemeinsamen Wohnung und war traurig. Vielleicht war es auch nur Selbstmitleid. Trotzdem… war alles nicht einfach. Die Wohnung hatte wirklich eine unfassbare Anzahl an verschiedenen Fußböden. Auf den knapp 65 Quadratmetern hatte jeder Raum seinen eigenen Untergrund erhalten: Holzdielenfußboden, Parkettfußboden, Linoleum, Teppich auf Linoleum, Fließen und Linoleum-Fließen. Letztere ersetzte die Vermieterin später durch Laminat. Um diesem Patchwork der schwäbischen Innenausstattung zu entkommen, spazierte ich gern an den Rand der Stadt, der nun ja unweit dieser Wohnung lag.

Ein Besuch an diesem Ort blieb mir besonders in Erinnerung. Er war Folge einer Email, die in dieses damalige, so zittrige Universum des Liebeskummers gesandt wurde. Mein Herz schlug bis zum Hals als ich den Posteingang öffnete und – fast schon poetisch wie die Verzögerung beim Öffnen eines papiernen Briefes – dass mein altes Smartphone eine ganze Weile brauchte, um die Nachricht zu laden und den schier endlos langen Text auf dem winzigen Bildschirm zurechtzurendern.

Post von damals

Es war eine Nachricht, die es in sich hatte. Sie war der Durchlauf, ja fast schon wilde Durchritt durch eine noch frühere Bekanntschaft. In wenigen Sätzen, faszinierend unprätentiös, wurde ein früheres Leben aus der Versenkung geholt, das dem gerade gescheiterten Leben hier in Tübingen vorausging. Kleine, fast schon vergessene Stationen, die ihr vielleicht noch mehr bedeuteten als mir … damals wie heute. Aber so genau kann ich es heute gar nicht mehr sagen, denn es wurde da in dieser Nachricht ein Bild von mir gezeichnet, das ich schon gar nicht mehr richtig kannte. Das liegt vermutlich daran, dass ich bei dem Versuch Fehlgeschlagenes und Verletztendes zu vergessen (besser zu verdammen) – auch damit begonnen hatte, einen Teil von dem zu vergessen, wer ich mal war.

Ich hastete – vielleicht auf dem Dielenboden, vielleicht auch auf den Linoleum-Fließen – durch die schönen und dann auch durch die nicht so schönen Erinnerungen, die in dieser Nachricht ausgebreitet wurden. Vieles davon lag einige Zeit zurück, etwa fünf Jahre. In der Nachricht wurde nachskizziert wie aus Bekanntschaft, Freundschaft und dann vielleicht so etwas wie kurze Leidenschaft wurde, um am Schluss in Stille zu enden. Aber es war nicht nur historisches in dieser Nachricht versammelt – WG-Geschichten, Partys, Küsse – nein, diese Nachricht war gespickt mit Dingen aus der unmittelbaren Gegenwart. Tweets, Songs, die ich vor Kurzem online postete, weil sie mir etwas bedeuteten. Es war verstörend, dass nach all den Jahren und nach all dem Schweigen, meinerseits, sie offenbar noch immer ab und an meine Glühspuren verfolgt.

Und da saß ich nun. Zwischen den Feldern in der Nähe der Bahngleise und wusste nicht recht, was ich zu all dem denken sollte. Ich weiß nur noch, wie ich versuchte anhand meiner eigenen Glühspuren, die ich schon damals in Form von Gezwitscher und rührseligen Blogposts im Netz hinterließ, mir wieder in Erinnerung zu rufen, was damals zu der Zeit, von der die Nachricht berichtete, los war. In mir. Wie war das als die Senderin dieser Nachricht und ich uns noch nahe standen, wie war noch mal das Gefühl, damals, als dass, was ein Endpunkt für uns beide zu werden drohte, aufzog. Als ich mich an ihren Erinnerungen und meinen Glühspuren zurückhangelte, fiel mir auf, dass ich in all den Jahren immer wieder an sie und an unsere gemeinsame Zeit gedacht hatte. Ich denke, schlicht aus dem Grund heraus, weil es nicht abgeschlossen war. Klar, Abschluss. Da verlangt man vielleicht zu viel. Menschen gehen auseinander. So etwas passiert. Man verliebt sich, glaubt es zumindest und dann ändern sich die Dinge. Ich hegte nie Groll gegen Sie. Ich weiß nur noch, dass ich damals total unter Schock stand als in meinem Zimmer ihren Brief öffnete (oder vielleicht war es auch eine E-mail), in der das Ende verkündet wurde. Es ist ja immer Kennzeichen solcher Nachrichten, dass darin von Plänen berichtet wird, die für einen neu sind und in denen man selbst keine Rolle spielt. Damals war das irgendwas mit Rumänien… Nach dem ersten Schock ging ich dann in brutalen Selbstschutz über und ignorierte alle Kontaktangebote. Vielleicht ein Zeichen, dass mir all das wichtig war und mich vollkommen entsetzt fühlt, dass aus unser Freundschaft kurz Leidenschaft entstand, die dann in noch viel kürzerer Zeit abgefackelt wurde. Vielleicht hatte ich mich damals auch nicht genug angestrengt, aufregend zu sein, begehrenswert oder sonst etwas.

Der Brief, der eigentlich nur eine fröhliche Kontaktaufnahme ohne Hintergedanken sein soll. Er berichtet von Babyfüßen und Babyatem auf dem Bauch . Er fragt mich aber auch, ob ich noch immer Groll hege? Sicher, jetzt nicht mehr. Aber damals. Vielleicht war es damals nur so ein Schock für mich, weil ich immer der erste bin, der für immer denkt und für immer schreit und dann so ne Bauchlandung hinlegt, weil sie dann doch ganz anders tickte. Vielleicht spürte ich auch schon etwas bei unserm letzten Treffen. Ich weiß nur noch, dass ich dann irgendwas Kryptisches in mein Blog tippte und mir sagte: lerne es zu akzeptieren. Es begann in diesem Zimmer und hört halt hier auch wieder auf. Die Traurigkeit wird vergehen, sie wird schneller vergehen, weil es ja noch gar nicht richtig angefangen hatte. Und auf Gründe muss man eh nicht hoffen und zu verstehen gibt es da auch nicht viel.

Und da saß ich nun … im Sommer 2015 und begann diese Zeilen, die ich nun beende. 7 Jahre später.

Für N.

links for 2020-02-28

Ewig keine Linkliste mit Gelesenem mehr veröffentlicht. Die Diagnose, dass ich nichts mehr im Internet lese, trifft nicht zu. Ich habe nur wenig Lust das Gelesene zu kuratieren. Wenn ich es hier im Blog veröffentliche, dann habe ich stets das Gefühl zum Gelesenen und Kuratierten etwas zu schreiben. Einen eigenen Mehrwert hinzuzufügen. Das nervt und so kam es dazu, dass ich ewig keine Linkliste mit Gelesenem mehr veröffentlicht habe. Trotzdem landet alles immer fein säuberlich bei Diigo. Dann und wann vergebe ich dort tags zur besseren Orientierung. Also … nix kommt weg.

  • Mythos Erhard: Die Legende vom deutschen Wirtschaftswunder

    Vor bald 75 Jahren ging der Zweite Weltkrieg zu Ende. Danach soll Westdeutschland, so will es die Legende, ein einzigartiges „Wirtschaftswunder“ erlebt haben, das allein der Währungsreform zu verdanken sei. Und wie in jedem Märchen gibt es dabei auch einen Helden: Ludwig Erhard. Selbst Grüne lassen sich inzwischen mit seinem Konterfei abbilden. Ganz allein soll Erhard die neue D-Mark eingeführt und die „soziale Marktwirtschaft“ erfunden haben. In diesem Narrativ ist Erhard ein überragender Ökonom und Staatsmann, der Deutschland aus tiefster Not errettet hat.

Posted from Diigo. The rest of my favorite links are here.

Von Blumen im Internet (Nachtrag)

Das Thema lässt mich nicht los. Kurz nach dem Verfassen meines Artikels – einem Plädoyer das eigene Blog als freie, unabhängige Blume der sonst so von Konzernalgorithmen durchsetzten Social Media-Welt entgegenzusetzen – bin ich auf einen interessanten Beitrag von Alan Jacobs, einem Professor für Literatur am Baylor College (USA), gestoßen.

Sein Beitrag macht explizit, was ich implizit an meiner eigenen Blogautorenbiographie erarbeitet habe: wir dürfen die Errungenschaften des freien Publizierens und Lesens im Internet nicht einfach aufgrund von Bequemlichkeit und Reichweite, die von Social-Media-Konzerne generiert werden, aufgeben. Die großen Player in diesem Spiel haben Geschäftsmodelle1Allen voran Facebook, das vermutlich auch irgendwann gemerkt hat, dass es gar keine neutrale Social Media-Plattform ist, sondern vielmehr ein Werbevermarkter: The Facebook Brand mit Zielen und inhärenten Logiken, die ihren Nutzern Kompromisse (Datensparsamkeit, Algorithmen, …) und möglicherweise auch Gefahren (Datenschutz, Radikalisierung) aufbürden. In dieser Abwägung sollten wir als Nutzer des Internets oder als (noch-)Nutzer von Social Media-Webseiten mit Bedacht handeln und uns ein wenig Gedanken über die möglichen, zukünftigen Folgen unseres gegenwärtigen Handelns machen.

Alan Jacbos findet für diese Welt der Social-Media-Webseiten ein interessantes Bild, dass er sich von Tolkien borgt. Im Herr der Ringe gibt es die Stelle, in der der Zauberer Saruman mit Mordor kooperiert und Isengart in eine massive Industriestätte umwandelt, die nichts zurücklässt als verbrannte Erde, tiefe Gruben und nicht mehr bestellbares Land:

It is common to refer to universally popular social media sites like Facebook, Instagram, Snapchat, and Pinterest as “walled gardens.” But they are not gardens; they are walled industrial sites, within which users, for no financial compensation, produce data which the owners of the factories sift and then sell.

Den Gefahren und Kompromisse der „walled industrial sites“ a.k.a. Social Media-Webseiten möchte Jacobs mit der Fähigkeit begegnen, zu lernen außerhalb dieser eingezäunten Industriestätten, die letztlich zu nichts anderem werden als Industriebrachen für die freien Gedanken, zu leben. Das offene Internet nutzen, eigene Websites betreiben, freie Technologien einsetzen (er erwähnt dafür zahlreiche Fertigkeiten und Techniken, wobei das Programmieren explizit nicht dazugehört (gut!)) sieht er als entscheidende Komponente und bedeutende Fertigkeit des einzelnen, mündigen Bürgers. Er begründet dies u.a. mit einer Denkfigur eines deutschen Philosophen. Hans Jonas „Prinzip der Verantwortung“ ist vielen sicherlich eher bekannt aus umwelt- bzw. bioethischen Debatten. Die zentrale Leitmaxime…

Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.

… soll Orientierung dabei bieten, möchte man erkennen, was in einer technologisierten Welt als wünschenswert angesehen werden soll. Jacobs leitet daraus eine Art Verantwortung für uns Heutige ab. Ähnlich wie in den Debatten um Nachhaltigkeit kann  Jacobs dahingehend verstanden, dass wir uns Gedanken machen sollten, was wir hinterlassen. Entweder eine eingzäunte, algorithmisierte Welt der Social-Media-Industriebrachen, von denen wir abhängig sind und die uns, zumindest zum Teil, die Freiheit des Diskurses, der Offenheit und Interoperabilität rauben – oder aber ein nicht immer einfaches Leben (ja man verliert ja die Reichweite, die Lemminge zu erreichen) in der freien, wilden Welt des Internets.

We can live elsewhere and otherwise, and children should know that, and know it as early as possible. This is one of the ways in which we can exercise “the imperative of responsibility,” and to represent the future in the present.

Ein paar spannende Gedanken, die Jacobs da äußerst, gesättigt offenbar von seiner extremen Belesenheit:

Alan Jacobs: Tending the Digital Commons: A Small Ethics toward the Future. In: The Hedgehog Review 20(1), Spring 2018.

Das Blog. Eine freie Blume auf dem wilden Feld des Webs

Ist das Blog wieder da? Der kritische “Fall” von facebook, twitter und youtube in den letzten Wochen lassen Kottke.org und Dan Cohen da ein wenig Bewegung sehen. urbandesire.de präsentiert hier einen kleinen zusammenfassenden Artikel, der bewusstseinstromartig zu der Überlegung kommt, dass es schade ist, dass es die Blogosphäre nicht mehr gibt. War es doch der Ausdruck eines freien und offenen Internets, das nicht den Silos der Netzgiganten lag und von Algorithmen, technischen Restriktionen und Radikalisierungswahnsinn abhängig war. Besuchen Sie die gute alte Zeit.

Was war

Weiß  eigentlich noch jemand, was ein Pingback ist? Richtig. Veröffentliche ich einen Beitrag auf diesem Weblog und verlinke auf einen Artikel eines anderen Weblogs, der Ping- oder Trackbacks unterstützt, erhält dieser eine Benachrichtigung, dass von mir auf seinen Artikel Bezug genommen wurde.

Ähnlich wie in Zeiten von Smartphones und Spotify, das Wissen darum, was eine Musikkassette oder eine CD eigentlich ist, gänzlich verschwunden ist, ist vermutlich auch die Kenntnis, was ein Ping- oder Trackback sein könnte, vom Aussterben bedroht. Wenn es überhaupt eine breite Masse jemals wusste.

Dieses Wissen stammt aus einer Zeit Welt, in der Begriffe wie Blogosphäre, Internettagebuch, Blogroll, Klotüren des Internets bedeutungsvolle Konzepte waren. Sie suggerierten ein wenig den Hauch des Aufbruchs in ein neues Jahrtausend, indem es durch Technologie möglich geworden ist, selbst zum Sender, Redakteur oder Medium zu werden. Irgendwie urban abhängen und Blogs statt Kultur verfassen und damit im besten Fall die neue, alte Medien überdröhnende Stimme zu sein. All sowas halt.

Rückblickend betrachtet war die Relevanz der Blogosphäre dann doch recht beschränkt. Die Blogs, über die geredet wurde, waren nur von kleiner Anzahl.1Dieser Artikel in der FAZ aus dem Jahre 2010, fasst das sehr schön zusammen. Sozusagen die Quintessenz dessen, was hängen blieb von der deutschen Blogosphäre.

Tod des Blogs

Sechs Jahre später konnte man dann wirklich vom Tod des Blogs sprechen:

Heute gibt es diese Blogs zwar noch immer, sie sind jedoch bedeutungslos. Die Blogger von früher schreiben entweder direkt auf den Seiten der etablierten Verlage oder sie sind […] mit professionellem Webauftritt, mit hohen Besucherzahlen, Werbung, Sponsoren und fest angestellten Mitarbeitern nichts anderes als, sagen wir es ruhig: Verleger.2Michael Spehr (2016): Blogs am Ende

Einige Blogs haben sich noch gerettet, man findet sie noch einsam vor sich hin publizierend. Einige sind den Weg der Professionalisierung gegangen und zu einer Art Lifestyle-Magazin oder Linkschleuder geworden. Viele der Bloggerinner und Blogger sind als Autorinnen und Autoren bei etablierten Medien untergekommen und das, was die Blogs zu Beginn des Jahrtausends einmal waren, hat sich auf zentrale Plattformen und andere Publikationsformen verteilt: Influencer sind heute bei Instagram, Produkttester bei youtube; Debatten werden auf twitter geführt, Reichweite hat man bei facebook, wo man seine kuratierten Inhalte teilt und Podcasts haben ein unaufhaltsamem Aufstieg erlebt, der sie quasi zum Standard des gesellschaftlich-politischen Kommentars zur Einordnung der Weltlage hat werden lassen.

Pathologie des Untergangs – warum?

Als seit 2012 der (langsame) Tod des Blogs ausgerufen wurde und auch wirklich um sich griff, gab es immer zahlreiche Hypothesen, woran es denn nun liege:

  • Selbstüberschätzung der Blogosphäre, die nach anfänglichem Hype durch die ihr eigentliche fehlende Relevanz wieder in die Bedeutungslosigkeit eingeebnet wurde. Sozusagen den Platz erhalten hat, den sich verdient
  • die anstrengende und latente Beschäftigung mit sich selbst, die zu immer mehr Bloggercharts, -listen und gähnend langweiligen Diskussionen führten, wie die dabei angewandten Algorithmen zu interpretieren, auszuhebeln und zu beachten seien,
  • eine Kannibalisierung durch zentrale Social Media-Plattformen – allen voran facebook3„Seit Facebook nicht mehr demokratisch und chronologisch die letzten Posts anzeigt, sondern das, was der Algorithmus für relevant hält, werden Blogs immer weniger gelesen. Das ist ein Fakt, den ich aus Erfahrung bestätigen kann.“ von watp – oder zentralen Blogging-Dienster neuer Provinenz wie medium.com
  • der hinterlistige Zug von Google mit dem Abschalten des GoogleReaders in 2013 RSS-Feeds und damit auch den Blogs den Gar auszumachen, um die eigene Platform Google Plus zu pushen
  • mangelnde Monetarisierungsmöglichkeiten für alle diejenigen tollen Autorinnen und Autoren, die ihr Blog aus einem privaten Zeitvertreib in die unabhängige Professionalisierung treiben wollten,
  • Ermattung und Einsicht des privat bloggenden Hobbyautoren, dass ein Blog schon viel Zeit in Anspruch nimmt und man nicht immer zu jedem Thema eine dezidierte und publikationswürdige Meinung hat.
  • die Feststellung, dass das eigentlich keiner liest und vielen Bloggerinnen und Bloggern letztlich die Kundschaft fehlt. Menschen interessieren sich für Menschen. Aber nur ich, ich ich und Befindlichkeitsfixiertheit unterbrochen von belanglosen Beiträgen über den letzten samstägigen Spaziergang, weil das portraitierte Leben dann doch zu langweilig ist, scheint dann wohl doch zu viel für die meisten Leser zu sein und der Mensch klickt weg.

“It is psychological gravity, not technical inertia, however, that is the greater force against the open web. Human beings are social animals and centralized social media like Twitter and Facebook provide a powerful sense of ambient humanity—the feeling that “others are here”—that is often missing when one writes on one’s own site.”4Back to the Blog by Dan Cohen

Inneres Exil des Bloggers?

Warum ich persönlich stoppte zu bloggen bzw. begann wesentlich weniger auf diesem bald 14 Jahre altem Weblog zu publizieren, hat vielerlei Ursachen.

Die Zeit. Zunächst meine Neigung zur Langstrecke. Wenn ich über etwas schreibe, dann artet das immer aus, gerät viel zu lang und man kann die Pointe bzw. die Hauptthese zwischen all den Gedanken meist gar nicht mehr finden. Lange Texte benötigten zudem einfach mehr Zeit, die mir in der finalen Phase meines Studiums, während der Promotion und auch jetzt im Berufsleben einfach fehlen. Ich sitze manchmal sechs, sieben Stunden an einem Text. Mit Unterbrechungen allgemeiner Lustlosigkeit bleibt dann einfach vieles liegen und es wird sich anderen gewidmet.

Die Relevanz. Weiterhin hatte dieses Blog nie die richtige Reichweite. Die Kommentarspalten sind, bis vielleicht auf eine heiße Phase in der Mitte der 2000er,  wenig genutzt worden – will sagen, keiner liest das. Egal, wieviel ideologischen Firniß man jetzt an sich selbst hängt, wer in das Internet schreibt, will gelesen werden, will das man wahrgenommen wird. Die beste Währung sind dann vor allem Kommentare. Gab es nie. Somit beschleicht mich stets das Gefühl, dass niemand da draußen ist, den das nur ansatzweise interessiert.

Die Ablenkung. Die anderen Social Media-Kanäle lenken ab. Und durch ihre Allgegenwärtigkeit und schiere Menge, geriet man schnell nur zum passiven Konsumenten, der schnell etwas teilt, ohne sich selbst dazu zu positionieren. Wie leicht retweetet man heute einen Text, ohne nur im geringsten Maße Stellung dazu zu beziehen.

Der Autor. Auch kann ich sagen, dass ich mich nie damit abgefunden habe, hier öffentlich zu schreiben. Privates wird stets verklausuliert in kryptische Prosa  gepackt, die voller ahnungsvollem Raunen realistische Andeutungen sofort zurücknimmt und mit mäandernden Sätzen hantiert, die im nichts verlaufen. Ich bin einfach kein wirklich guter Autor, der knackige Texte mit eleganten Gedanken in das Internet schreibt. Ich bin wie so viele ander Bloggerinnen und Blogger gefangen in einer Mittelmäßigkeit, die vermutlich einige dann letztlich auch zur Einstellung ihrer privaten Publikation führten. Man muss zum Schreiben schon ein ganz bestimmte Beziehung haben, wenn man sich das ohne Arbeitgeberdruck oder Geld aus bloßen Mitteilungsbedürfnis antun will.

Back to the Blog

Trotzdessen habe ich es nie über das Herz gebracht, dieses Kleinod an über 1000 Artikeln, das in seiner Gesamtheit ein Blog bildet, einfach abzuschalten. Es hat mich durch zahllose Stationen meines Lebens begleitet, viele Beziehungen gesehen, wurde mit Nichtbeachtung gestraft als instagram, facebook oder twitter wichtiger waren, ist der Ort von hunderten Tippfehlern, die ich öffentlich zur Schau stelle, und doch blieb es bestehen. Am Anfang (vor 5-6 Jahren) dachte ich immer mit schlechtem Gewissen, ich müsste noch was bloggen. Speicherte dafür Links und Ideen, über die ich noch schreiben wollte. Aber mit der Zeit war auch dieser innere Druck vorbei und ich postete ab und an etwas, wenn mir danach war.

Um mich herum schlief die Blogosphäre ein oder auch mein Interesse an ihr. Aber wenn ich heute in die Blogroll der tbz blicke, da wo alles für mich begann, ist mit klingsor, rene von yetanotherblog, Jens und vielen anderen doch noch einiges los, insofern sporadisch oder gar regelmäßig gebloggt wird. Erstaunlich nach all der Zeit.

Doch der richtige Drive, wie es etwa momentan youtube oder auch die Podcastlandschaft (gut so) erfährt, ist raus.

Eigentlich ist es schade um das Blog und die Blogosphäre. War es doch nicht nur eine Kulturtechnik und diskursive Praktik, die eine spannende Gegenöffentlichkeit zu Politik und etabilierten Medien bildete und letztere sicherlich bereicherte, sondern auch eine Errungenschaft des Open Webs. Mit selbstgehosteter Blogging Software, RSS, Kommentarfunktion, Tracksbacks war man unabhängig. Frei vom Algorithmus der Betreiber und der anstrengenden Community, die Portale wie youtube und facebook mit sich bringen5ja… natürlich auch frei von der Reichweite, den diese einem bescheren können, ohne Sorge bei Einstellung des Dienstes entwurzelt zu sein (siehe Soundcloud oder memit). Doch die Infrastruktur ist verweist, die Community nur noch eine Quersumme anderer Netzwerke, nicht mehr richtig vernetzt ist, sich auch nur noch wenig lesend usw. … jeder bloggt für sich… einfach wie eine freie Blume auf dem wilden Feld des Webs. Nur eben allein. Allein mit der bloßen Ahnung, dass es da auch noch andere gibt.

Notiertes

Vor ein paar Tagen einen handschriftlichen Zettel gefunden, auf dem ich vor ein paar Jahren (?) – zumindest vor einiger Zeit – mal so ein paar Gedanken niedergekritztelt hatte. Beim nochmaligen Lesen bin ich leicht überrascht, obzwar der immer noch geltenden Güte dieser Ideen. Ich weiß leider nicht mehr, warum ich das notiert hatte.

Hintergrund: es geht um Moblität.

1) Statt Dienstwagen… nur noch ein Mobilitätsguthaben, dass jenseits des Flugverkehrs vor allem öffentliche Verkehrsmittel, Carsharing, MFG favorisiert

2) Geschwindigkeitsbegrenzung auf deutschen Autobahnen: 120 km/h

3) Die Deutsche Bahn steuerungspolitisch umwidmen. Statt daraus eine börsennotiertes und profitorientiertes, halbstaatliches Unternehmen zu machen, sollte diese mit dem einzigen Auftrag ausgestattet werden, der sinnvoll ist: öffentlichen Nah- und Fernverkehr günstig und zuverlässig bereitstellen sowie die Logistik auf die Schiene bringen.

4) Akzeptieren, dass das E-Auto als neuer Goldstandard der Individualmobilität keines unseres Probleme (Klima, Verkehrsüberfüllung, Parkplatzmangeln etc.) lösen wird

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