Es gibt am Stadtrand von Tübingen eine Gegend, die ich häufig besuchte. Das Wort „Gegend“ klingt schon viel zu ausladend. Es ist eher ein Ort. Ein kleiner Ort. Bahngleise sind zwischen Feldern eingequetscht. Hier und da hat ein geschäftstätiger Schwabe ein kleines Stück Land verpachtet, auf dem energiegeladene Menschen aus der Kernstadt dem kargen Feldboden ein paar Beete abgerungen haben. Behelfsmäßig wurde auch eine Bank aufgestellt. In den mitgepachteten Obstbäumen muss immer eine Schaukel hängen. Flatterband grenzt die frei stehenden Parazellen von der Umwelt ab.
Zum beginnenden Spätsommer, wenn die Felder abgeerntet wurden, duftet es an diesem Ort so intensiv nach Stroh und Heu, dass man fast betäubt wird. Der beste Platz an diesem Ort ist dabei inmitten auf einem staubigen Schotterweg. Am Rand wiegen sich die Gräser im noch hitzigen Wind Süddeutschlands. Man blickt in Richtung Westen. Man blickt auf die Auen des Neckartals, die so saftiges Gras haben, dass es kaum zu glauben ist.
Die Sonne geht hier hinter einer moderaten Bergkette unter. Es sind fast keine Berge. Man blickt im Prinzip auch auf die Grenze von Protestantismus (Tübingen) und Katholizismus (Rottenburg), die sich hier kaum merklich – trotzdem existent – durch die Landschaft schlängelt. Ich kannte diesen Ort von meinem Fitnessbemühungen der Tübinger Jahre. Ich lief regelmäßig durch das Neckartal vorbei an den Gräsern, über die saftigen Wiesen und trat an guten und fitten Tagen zum Katholizismus über, bei dem ich aber oft nicht lang verweilte. Auch jenseits der Laufstrecke besuchte ich diesen Ort oft und wollte den Sonnenuntergang beobachten. Ich schaffte es selten. Stattdessen beobachtete ich nur das Verglühen des Tages, wenn die Sonne schon hinter den Hügeln ist und langsam an Kraft verliert.
Die Wohnung der tausend Böden
All euren Kitschvorwürfen nun einmal standhaltend, denke ich, war dieser Ort am Rande der Stadt in dieser Zeit mein Platz, um die Gedanken ein wenig zu ordnen. Ich war zu diesem Zeitpunkt schon allein in Tübingen. Katze weg, Wärme weg und selbst Schuld. Guten Freunden erzählte ich immer wieder die Geschichte der Trennung. Wie ich an einem Tag hunderte von Kilometer von Tübingen nach Leipzig und zurück fuhr und auf der A6 so heftig schluchzend „Heavy Seas of Love” von Damon Albarn hörte, dass ich anhalten musste.
Zurück in Tübingen schritt ich nun manchen Spätnachmittag allein über die zahlreichen Fußböden der ehemals gemeinsamen Wohnung und war traurig. Vielleicht war es auch nur Selbstmitleid. Trotzdem… war alles nicht einfach. Die Wohnung hatte wirklich eine unfassbare Anzahl an verschiedenen Fußböden. Auf den knapp 65 Quadratmetern hatte jeder Raum seinen eigenen Untergrund erhalten: Holzdielenfußboden, Parkettfußboden, Linoleum, Teppich auf Linoleum, Fließen und Linoleum-Fließen. Letztere ersetzte die Vermieterin später durch Laminat. Um diesem Patchwork der schwäbischen Innenausstattung zu entkommen, spazierte ich gern an den Rand der Stadt, der nun ja unweit dieser Wohnung lag.
Ein Besuch an diesem Ort blieb mir besonders in Erinnerung. Er war Folge einer Email, die in dieses damalige, so zittrige Universum des Liebeskummers gesandt wurde. Mein Herz schlug bis zum Hals als ich den Posteingang öffnete und – fast schon poetisch wie die Verzögerung beim Öffnen eines papiernen Briefes – dass mein altes Smartphone eine ganze Weile brauchte, um die Nachricht zu laden und den schier endlos langen Text auf dem winzigen Bildschirm zurechtzurendern.
Post von damals
Es war eine Nachricht, die es in sich hatte. Sie war der Durchlauf, ja fast schon wilde Durchritt durch eine noch frühere Bekanntschaft. In wenigen Sätzen, faszinierend unprätentiös, wurde ein früheres Leben aus der Versenkung geholt, das dem gerade gescheiterten Leben hier in Tübingen vorausging. Kleine, fast schon vergessene Stationen, die ihr vielleicht noch mehr bedeuteten als mir … damals wie heute. Aber so genau kann ich es heute gar nicht mehr sagen, denn es wurde da in dieser Nachricht ein Bild von mir gezeichnet, das ich schon gar nicht mehr richtig kannte. Das liegt vermutlich daran, dass ich bei dem Versuch Fehlgeschlagenes und Verletztendes zu vergessen (besser zu verdammen) – auch damit begonnen hatte, einen Teil von dem zu vergessen, wer ich mal war.
Ich hastete – vielleicht auf dem Dielenboden, vielleicht auch auf den Linoleum-Fließen – durch die schönen und dann auch durch die nicht so schönen Erinnerungen, die in dieser Nachricht ausgebreitet wurden. Vieles davon lag einige Zeit zurück, etwa fünf Jahre. In der Nachricht wurde nachskizziert wie aus Bekanntschaft, Freundschaft und dann vielleicht so etwas wie kurze Leidenschaft wurde, um am Schluss in Stille zu enden. Aber es war nicht nur historisches in dieser Nachricht versammelt – WG-Geschichten, Partys, Küsse – nein, diese Nachricht war gespickt mit Dingen aus der unmittelbaren Gegenwart. Tweets, Songs, die ich vor Kurzem online postete, weil sie mir etwas bedeuteten. Es war verstörend, dass nach all den Jahren und nach all dem Schweigen, meinerseits, sie offenbar noch immer ab und an meine Glühspuren verfolgt.
Und da saß ich nun. Zwischen den Feldern in der Nähe der Bahngleise und wusste nicht recht, was ich zu all dem denken sollte. Ich weiß nur noch, wie ich versuchte anhand meiner eigenen Glühspuren, die ich schon damals in Form von Gezwitscher und rührseligen Blogposts im Netz hinterließ, mir wieder in Erinnerung zu rufen, was damals zu der Zeit, von der die Nachricht berichtete, los war. In mir. Wie war das als die Senderin dieser Nachricht und ich uns noch nahe standen, wie war noch mal das Gefühl, damals, als dass, was ein Endpunkt für uns beide zu werden drohte, aufzog. Als ich mich an ihren Erinnerungen und meinen Glühspuren zurückhangelte, fiel mir auf, dass ich in all den Jahren immer wieder an sie und an unsere gemeinsame Zeit gedacht hatte. Ich denke, schlicht aus dem Grund heraus, weil es nicht abgeschlossen war. Klar, Abschluss. Da verlangt man vielleicht zu viel. Menschen gehen auseinander. So etwas passiert. Man verliebt sich, glaubt es zumindest und dann ändern sich die Dinge. Ich hegte nie Groll gegen Sie. Ich weiß nur noch, dass ich damals total unter Schock stand als in meinem Zimmer ihren Brief öffnete (oder vielleicht war es auch eine E-mail), in der das Ende verkündet wurde. Es ist ja immer Kennzeichen solcher Nachrichten, dass darin von Plänen berichtet wird, die für einen neu sind und in denen man selbst keine Rolle spielt. Damals war das irgendwas mit Rumänien… Nach dem ersten Schock ging ich dann in brutalen Selbstschutz über und ignorierte alle Kontaktangebote. Vielleicht ein Zeichen, dass mir all das wichtig war und mich vollkommen entsetzt fühlt, dass aus unser Freundschaft kurz Leidenschaft entstand, die dann in noch viel kürzerer Zeit abgefackelt wurde. Vielleicht hatte ich mich damals auch nicht genug angestrengt, aufregend zu sein, begehrenswert oder sonst etwas.
Der Brief, der eigentlich nur eine fröhliche Kontaktaufnahme ohne Hintergedanken sein soll. Er berichtet von Babyfüßen und Babyatem auf dem Bauch . Er fragt mich aber auch, ob ich noch immer Groll hege? Sicher, jetzt nicht mehr. Aber damals. Vielleicht war es damals nur so ein Schock für mich, weil ich immer der erste bin, der für immer denkt und für immer schreit und dann so ne Bauchlandung hinlegt, weil sie dann doch ganz anders tickte. Vielleicht spürte ich auch schon etwas bei unserm letzten Treffen. Ich weiß nur noch, dass ich dann irgendwas Kryptisches in mein Blog tippte und mir sagte: lerne es zu akzeptieren. Es begann in diesem Zimmer und hört halt hier auch wieder auf. Die Traurigkeit wird vergehen, sie wird schneller vergehen, weil es ja noch gar nicht richtig angefangen hatte. Und auf Gründe muss man eh nicht hoffen und zu verstehen gibt es da auch nicht viel.
Und da saß ich nun … im Sommer 2015 und begann diese Zeilen, die ich nun beende. 7 Jahre später.
Für N.