Vielleicht geht es vielen so? Berlin erscheint auch nach wiederholten Besuchen zunächst als fremd, als seltsam riechender lärmenden Raum, der – teilweise erbaut auf Müll – seine große Klappe niemals halten kann und in immer bunteren Sprachen rumort und blubbert. Es ist ja nun gottseidank nicht so, dass ich genötigt wäre in dieser sich zu wichtig nehmenden Metropole leben zu müssen. Ich komme alle paar Jubeljahre mal vorbei und steuere spionagenhaft – still und lautlos – durch ihre (kulturellen) Versorgungsadern. Man will ja nicht vollgesuppt werden. Bedächtig achtet man darauf in den S- und U-Bahnen nicht allzu häufig mit zugekniffenen Augen aus den Fenstern zu starren, wenn der Zug in die Bahnhöfe einfährt. Denn ein echter Berliner, also jemand der da offenbar länger als ein halbes Jahr lebt, merkt sich die Ansagen oder hört diese als Bestätigung eines Wissens, dass er bereits besitzt. Der Touri und die Fremden starren aus den Zügen und kriegen hochrote Köpfe vom Aufspringen, wenn die Zielbahnhof erreicht ist und der Ausstieg droht.
Ja, droht. Denn hier wartet die nächste Herausforderung: Geht man nun nach links oder rechts? Verlässt man den Bahnsteig zum Anschluss oder zum Ausgang in die eine oder in die andere Richtung? Auch wenn es Schilder gibt, so schnell ist der Fremde nicht orientiert und muss anschließend doch wieder eine Richtungskorrektur vornehmen. Achtet doch einfach mal auf die verwirrt umhersteuernden Fremden in den Bahnhöfen der Stadt, die sich wie eine seltsame Erkrankung durch das Gewebe eines Körpers strauchelt.
Doch trotz all der Befremdlichkeit rutscht man in dieser Stadt erstaunlicherweise so schnell in die Phase der Vertrautheit, die im Wesentlichen aus einer Haltung reinen Desinteresses besteht. Es ist einem schlicht alles egal, genau wie den anderen hier, die mit dir durch diese Stadt laufen, fahren oder neben dir an irgendeiner Ecke sitzen. Die Leute sehen hier schon im Durchschnitt so fertig, bescheuert oder verwirrt, übertrieben, pompös, grandios oder heldenhaft aus, dass man sich wegen der eigenen Anwesenheit und Teilnahme am Leben der Stadt eigentlich keine Gedanken machen muss. Man kann Jogginghosen zu wirklich jedem Anlass tragen, man kann sich zu jedem erst einmal komisch benehmen oder seltsame Dinge verlangen. Alles in dieser Stadt ist schon eingepreist. – – Wenn man nicht gerade mit einem eintattooweirden oder blutig eingeritzten Hakenkreuz auf der Stirn daherkommt, muss man sich eigentlich um Nichts Sorgen machen (vermutlich stellt auch Letzteres den Durchschnittsberliner vor nur wenig oder gar keine Akzeptanzprobleme).
Nun gut, ich war aus der Provinz im Südwesten in den Nordosten, in die Metropole gekommen. Dabei hörte ich Geschichten, die mich an meine Begegnung mit der Metropole erinnerten. Fremdheit und deren Überwindung. – Eine gute Freundin tut sich auf diversen Dating-Portalen um. Nach Jahren der Einsamkeit, in denen eben nicht so viel ging, war sie fast gepackt von einem Fieber zwischen Chatting, Dating und der nächsten wilden Geschichte im Bett. Vielleicht übertreibe ich, aber ich hatte das Gefühl, wir sprachen fast ausschließlich über diese neuen Entwicklungen. Von Dates, die mit seltsamen Sprüchen begannen, ironiefreien Chats, bei denen sie intellektuell völlig überlegen war, und schnellen und schmutzigen Treffen, bei denen zwischen digitalem Kennenlernen und der ersten körperlichen Nähe nur wenige Stunden oder Tage vergingen.
Ich hing an ihren Lippen, aber eben anders als die anderen. Die ganze Zeit fragte ich mich, wie sie diese Fremdheit überbrückt und in den Modus der Nähe gelangt. Vermutlich ist diese Frage eigentlich naiv. Wir sind ein soziales Wesen und ein nicht zu verachtender Teil und Wesens ist darauf ausgelegt, zu kooperieren, Nähe zu suchen und Verbindungen zwischen uns und den anderen zu detektieren. Aber in diesem Moment fragte ich mich wirklich, ich der seit über zwei Jahren keine Nähe mehr hatte, ob man diese Mauer bestehend aus Fremdheit auch nur für einen kurzen Moment überwinden kann, ohne hemmungslos sich selbst zu verlieren. Wie wird aus einem Chat-Gesicht mit kurzen Sätzen ein Treffen zum Ficken oder gar noch mehr?
Was meine Freundin da berichtete, war für mich schon mehr als eine Herkules-Tat. Denn hier wurden nicht nur seelische Masken entrissen, sondern auch Kleidungsstücke herabgezogen, die beide jeweils für sich eigene Wahrheiten hervorbringen, die im städtischen Alltag sonst gut gehütet sind. Interessant finde ich vor allem die zwei Begriffe von Nähe, die sich abzuzeichnen scheinen.
Auf der einen Seite die mechanische Nähe. Hier kommt die Biologie zum Zuge, denn es zeigt sich, dass für den reinen körperlichen Akt die Biologie einige Vorkehrungen getroffen hat, um zum Vollzug zugelangen, ohne dabei ernsthaft wirkliche Nähe des Typs II zuzulassen, den ich umschreiben würde als eine emotional-intellektuelle Nähe. Wiederum scheint es auch eine ganze Reihe von Dates zu geben, die langwierig den Typ II umspielen und lange Zeit oder gar nicht zu Typ I gelangen. Sicherlich gibt es auch Zwischenstufen, aber die in keinster Weise repräsentative statistische Auswertung der Treffen offenbart einen „bi-stabilen“ Ausgang der Treffen. Entweder Typ I, bei denen die Treffen nicht annähernd in die Reichweite einer emotional-intellektuelle Nähe gelangen. Oder aber Typ II, bei denen erst nach langer Zeit eine mechanische Nähe zugelassen wird.
Aus all dem folgt keine Erkenntnis für mich in diesem Text. Die Gründe für diese Beobachtung kann sich jeder selbst denken. Dies vor Augen geführt zubekommen, hinterlässt bei mir nur einen offener Mund gefüllt mit Erstaunen. Und ich finde diesen Moment, indem Fremdheit zu Nähe wird, einfach nur interessant. Es ist ein Kippbild menschlichen Sozialverhaltens. Deswegen finde ich folgendes Fotoprojekt so interessant, das sich diesem seltsamen Moment widmet, immer wieder versucht sich diesem zu stellen und ihn festhalten will:
“In my work titled „intimate strangers“ I suggest randomly chosen strangers to have an intimate acquaintance. I take photographs with them in their private space; their living rooms, bedrooms, bathrooms, back yards, and any place that’s scorched with their personal memory. I request that they look at me, think about me, and remember me. The encounter is singular and short, and harbors a sensation of its infinite possibilities, a unique and magical moment overpowering the everyday stale and automated existence. In every encounter I stage an intimate moment, an artificial acquaintance.”
initimate stranges
aus: intimate strangers1
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