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Kategorie: Literatur (Seite 2 von 6)

Wölt der winter schier zergân

Möhte ich verslâfen des winters zît!
wáche ich die wîle, sô hân ich sîn nît,
dáz sîn gewalt ist sô breit und sô wît.
wéiz got, er lât ouc dem meien den strît.
sô lise ich blúomen, dâ rîfe nû lît.

WdV (L 39,6)

Die Weisheit der Urbanität

Gehe ich durch meine Heimatstadt, schlagen mir an allen möglichen Stellen Lebensweisheiten entgegen. Sie sind an Hauswände geschrieben, in farblich passenden Lettern, schön dezent, trotzdem Aufmerksamkeit auf sich ziehend. Zwei Fragen beschäftigen mich. In den seltensten Fällen wird der Autor (sei er auch anonym) genannt. Warum nicht? Ich denke, das soll die Universalität der Aussagen unterstreichen. Mit einem Autorennamen verbindet sich irgendeine Theorie, immer eine Geschichte, die die eigene Bedeutungszuweisung unterläuft oder gar abkürzt. Doch der verallgemeinernde Charakter dieser Sätze oder Sentenzen muss sich bezugsfrei entfalten. Die zweite Frage ist die Frage nach den Verursachern. Wer kommt auf die Idee einen Malermeister samt Lehrling zu engagieren, um diese Sprüche an die Wand zu pinseln? Sind dies Kunstprojekte oder moralisch tief verankerte Hausbesitzer, die die Welt verbessern wollen? Ich wittere fast einen Skandal. Vielleicht gibt es staatliche Subventionen, wenn man eine Hauswand nicht nur weißelt, sondern sie darüber hinaus noch zu einer Projektionsfläche für Lebensweisheiten macht?

Habe ich Zeit, gehe ich gern auf die Suche nach den Verfassern. Um es kurz zu machen. Die besten Sprüche stammen aus der Antike bzw. der Spätantike. Mit ihrer Rückbindung an die Tradition der Meditation, die nicht nur die eigene Seele ermahnen soll, sondern in ihrer Allgemeingültigkeit auch die Seelen aller (Lesenden), knallen diese Sentenzen am besten. Kostprobe gefällig?

Liebe das, was dir widerfährt und zugemessen ist; denn was könnte dir angemessener sein?

Voraussetzung des Verständnisses dieser Aussage ist, zu wissen, dass der Sprecher davon ausgeht, dass man selbst mit seinem Schicksal hadert. Im Laufe eines Lebens bricht so viel Unheil über einen herein, so vieles geht schief und man fühlt sich an die Prüfungen Hiobs erinnert. Doch anstatt darüber zu verzweifeln und sich nach den Ursachen der Qualen und Leiden zu fragen, soll man sich im Innern umwenden und die Perspektive ebenso drehen. Das Leben bricht nicht einfach über uns herein. Es ist ein unendlicher Strom von Entscheidungen, die Reaktionen hervorrufen. Scheinbar geht es um das Abwägen von Optionen. Doch doch die Frage nach den Optionen im Leben ist nicht so einfach zwischen gutem und schlechtem Ergebnis zu unterteilen. Die Tatsache, dass eine Entscheidung getroffen wird und getroffen werden muss (auch wenn das „widerfährt“ hier ein passives Lebensprinzip suggeriert, sollte man das Leben – und so meint es auch der Autor Marc Aurel – als etwas Gestaltbares sehen), führt dazu, dass es nur einen einzigen wirklichen Lebensweg deiner Person gibt. Im Moment des Treffens der Entscheidung schlägt man eine Richtung ein. Die Kategorien richtig und falsch verlieren ihre Bedeutung. Sie gelten nicht mehr, da es ja im Fällen der Entscheidung nur diesen einen Weg gibt. Alle anderen möglichen Optionen werden nichtig.
Sicherlich könnte jetzt schlau Skeptiker behaupten, dass ich doch eine Entscheidung sofort revidieren kann und dann exakt das Gegenteil mache. Gut. Aber dann hast du die erste „falsche“ Entscheidung benötigt, um die zweite Entscheidung zu treffen. Dieses Motiv sein Leben in seiner Ganzheit mit alle seinen Entscheidungen, mögen sie über kurz oder lang doch indirekt kategorial zuordbar (zu gut oder schlecht) sein, zu lieben, ist ein in der Literatur häufig anzutreffendes. Auch Paulo Coelho propagiert in seinem Werk „Der Alchimist“ diese Grundeinstellung: „Das Leben ist wirklich großzügig mit dem, der seinen persönlichen Lebensweg folgt.“ Beide, Aurel und Coelho, knüpfen dabei an die menschliche Vergänglichkeit an. Das Hadern und Kritisieren des eigenen Lebens wird unzumutbar in Anbetracht der Tatsache, dass man nur ein Leben hat und dieses obendrein zeitlich begrenzt ist.

Wer jetzt diese Zeilen liest, hat vielleicht eine Ahnung dafür bekommen, warum Menschen an Häuserwände diese Sprüche kleistern…

Literatur aus dem Buchregal

Aber die Leute haben nicht verstanden, was ich meinte, wie immer, wenn ich etwas sage, verstehen sie nicht, denn was ich sage, heißt ja nicht, dass ich das, was ich gesagt habe, gesagt habe, sagte er, dachte ich.

Schönheit im Wahn

Mein erstes Seminar in meinem Leben als Student war eine Nietzsche Seminar. Es ging um die Schrift „Die Geburt der Tragödie“. Ich hab damals nicht viel verstanden von der Bedeutung des dort geschriebenen. Die Worte und das „System “ dahinter waren mir klar, aber warum…? Ich mag Nietzsche bis heute, ich mag seine fast brutale und doch sanfte Art zu schreiben, dieses Rütteln am Leser bis man doch endlich verstanden hat, worum es geht. Ich habe nur immer das Gefühl, dass dieser Mensch ein unglaublich trauriger Mann gewesen sein muss. Letztens habe ich ein Video entdeckt, dass Nietzsche in seinen letzten Tagen (Wochen, Monaten) zeigt. Es ist vermutlich kein richtige Filmaufnahme, sondern nur eine gute Aneinanderreihung von Bildern aus der Fotoserie „Der kranke Nietzsche“. So hat man halt früher Filme gedreht. Ich fand sie in meinem Glauben an den traurigen Nietzsche sehr beeindruckend.

Symphatie für den Teufel

Der Aufstand des TeufelsEigentlich kann er uns Leid tun. Der Teufel. Er ist ein gefallener Engel. Er, ein Wesen geschaffen von Gott, begrenzt und unbedingt. Und doch mit der großen Schöpfungslust seines Vaters ausgestattet. Er will schöpfen und autonom sein in einer Welt, die nach den festen Regeln Gottes verläuft und nur durch deren Befolgung hat er Anteil am Unendlichen seines Schöpfers hat.
Es ist der Fluch des Nachkommen, des Zweiten, des Wegebetreters nicht vollständig Herr seiner Umgebung sein zu können. Die Begrenzung seiner Schöpferkraft durch die bereits fertiggestellte Welt wurmt ihn. Ihn, der im Geiste ebenso zu Großem berufen sein will, es aber nicht ausleben kann. Alles, was er schaffen darf, sind Wesen, die in unabdingbarer Abhängigkeit zu Gott und damit der Teilhabe am göttlichen All leben. Ein Leben im immer gleichsam Perfekten, nicht reduzierbaren. Nichts eigenes, nicht individuelles.

Zum Leben gehört immer Individualität, eine gesunde Eigenheit des Ichs, eine Autonomie vom Ganzen, um sich somit selbst zu konstituieren. Es gibt kein Leben ohne Individualität.

Es ist somit nur eine Frage der Zeit bis das Streben nach Individualität im Herzen des Teufels so groß geworden ist, dass ihm nur der Aufstand – die Auflehnung – gegen Gott und seine gemachten Regeln bleibt. Doch der Aufstand ist hausgemacht. Er ist sozusagen eine Fehlkonstruktion Gottes. Man kann kein individualisiertes, schöpferisch-kreatives Wesen schaffen und dann verlangen, dass dieses sich mit einer Dienerfunktion zufrieden gibt. Ein individualisiertes Wesen wird niemals auf Dauer Stellvertreter einer anderen Macht sein können.

Es muss zum Unausweichlichen kommen. Die göttliche Mißgeburt stürzt in die Tiefe. Sie wird verbannt aus dem glorreichen Himmelsreich, dem Ort der Perfektion – hernieder auf den Boden, um dort ohne die göttliche Gnade weiter zu existieren. Und nun wird er erst zum Gegenspieler Gottes. Und dies nicht aus dem Grund einer Boshaftigkeit, sondern aufgrund seiner Individualität – seines Strebens nach Unabhängigkeit wegen.

Der Teufel wird jedoch nicht vollständig verbannt. Er wird zu einer Grundkonstituente des neuen Lebens. Er gehört zu uns. Wir Menschen, Produkte der erneuten Schöpfung Gottes, bekommen den Keim des Teufels in uns eingepflanzt als unveränderlichen Teil unseres Wesens. Und so sind wir alltäglich hin- und hergeworfen zwischen dem Streben nach Selbstverwirklichung und Autonomie und der Teilhabe am entpersonalisierten Ganzen.

<causa>Das ist der Grund warum ich Filme wie „Der Exorzist“ oder „Das Omen“ nie ganz nachvollziehen kann. Sie sind Tradierungen eines Mythos, der nur eingesetzt wurde, uns kompatibel – früher mit Gott, heute mit der Gesellschaft und dem Zeitgeist – zu machen. Wir sind alle direkte Nachkommen des Teufels, nur dass wir dies vergessen haben.</causa>

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