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Ein Plädoyer für das Vergessen

Was erwartet man vom Leben? Zum einen vermutlich nicht vergessen zu werden. Man will diesen Sud aus Erinnerungen, Fetzen von Leben und Glück konservieren. Ich habe dafür ein Regal. Es ist eigentlich ein sehr schönes Regal. Schweres, duftendes Holz, weich abgeschmiergelt, unlackiert. Darin Regalböden mit nicht Vergessenem. Ganz unten habe ich in Konservengläser Geruche gesperrt. Fein sortiert. Ein kleines weißes Schild auf diesen Gläsern verrät den Inhalt. Dieses da beispielsweise: „Frühling 2005“ Darin der salzig-modrige Duft von Meeresmuscheln, der sofort das Gefühl von knirschendem Sand unter den Füßen hochkommen lässt. Oder dieses hier „Irgendwann 2006“: Eigentlich riecht es überhaupt nicht. Vermutlich war es ein ruhiger Nachtmittag auf dem Sofa; an einem Tag, an dem nichts passierte, die Luft flirrte und irgendwie die Welt stillzustehen schien.

Die Geruchssektion ist nicht so gut bestückt. Darüber ist ein Regalboden mit CDs. Oh, Gott Musik. Der Regalboden hat schon leicht Kratzspuren, weil die Hüllen so oft umsortiert wurden. Ich kann mich nie entscheiden, ob einer alphabethischen Reihenfolge oder einer biographischen Folgen soll. Erster hat natürlich den Vorteil einer besseren Auffindbarkeit des Lebenssoundtracks, letztere ist authentischer. Stimmt… über diesen Song lernte ich diesen oder jenen kennen und lieben. Somit wird hier regelmäßig umgeräumt, doch der Bestand bleibt eigentlich. Es sind Alben aus guten Tagen dabei. Tagen, an denen vermutlich die Sonne schien oder das Wetter in seiner Gänze egal war. Man hatte seine Hand auf dem Bauch des anderen und es war gut noch mal eine Stunde an der Luft zu sein. Dann gibt es aber auch die sich häufende Sektion von Platten, die … naja sagen wir es mal so weniger guten Gefühlen Pate standen. Unglaublich wie viel und gleichzeitig wie wenig es dann doch wieder ist. Fasse ich diese zerkratzen CDs an, kommen mit kalte Abende an meinem Schreibtisch in den Sinn. Ich starrte auf die Schreibtischplatte und fuhr mit den Fingern die tiefen Schluchten und Risse meines Herzens nach. Tagelang saß ich vermutlich so und das Sonnenlicht vermochte es nicht den Raum zu erhellen. Aus einem Gemisch aus Kaffee und Zigaretten formte ich mir Träume, die mich die ganze Nacht wach hielten und mich bewegungslos gen morgen ritten ließen. Die traurigen Melodien versetzt mit noch schrecklicheren Textzeilen und immer wieder because we are separate … sind zu einer wesentlichen Substanz meines Herzens geworden. Niemand wird das je verstehen. Niemand kann das auch verstehen. In aller Verlogenheit glaubt der Betrachter dieses Regal irgendetwas von all dem nachvollziehen zu können und will sich dabei nicht eingestehen, dass seine verständnissvolle Tiefe mit einem oberflächlichen Selbstbemitleidung umrandet ist, die zwar Tränen ausspuckt, aber eben aus den falschen Gründen.

Nichts ist also schlimmer als wenn diese Lieder versehentlich noch einmal im Musikabspielgerät landen und die ersten Takte bereits solch‘ einen Sog entwickeln, der einen, egal in welcher Situation man gerade steckt, tief in die Dunkelheit presst… Gehen wird deshalb weiter. Regalbodennummer drei ist zweigeteilt. Zum einen befinden sich hier Bücher. Ja. Literatur, die verantwortlich ist, dass ein man etwas kollektives empfindet. Ja und dann ist ja noch das mit der Axt und dem Meer in uns usw. Okay alles Komponenten, die diese Bücher haben. Aber ihre wichtigste Eigenschaft ist, dass ich sie nicht mehr lesen kann. Es reicht schon der erste Satz und ich stehe diesem Buch nicht mehr neutral gegenüber und möchte es an liebsten mit hassvollen Stoßgebeten einem glimmenden Feuer übergeben. Der andere Teil dieses Regalbodens ist bestückt mit Fundsachen aus dem Bereich „Scheiße, die passieren musste und nicht zu verhindern war…“ Da liegt zum Beispiel die erste Zigarettenschachtel, die unter neuen Vorzeichen geraucht wurde. Also nicht mehr als Spaß und Zeitvertreib, sondern konsquenter Bedürftigkeit und anhängender Sucht. Oder auch ein kleines Plastiktütchen. Darin befindet sich das Ergebnis meines Versuches die ganzen ernstgemeinten Worthülsen zahlreicher SMS zu konservieren. Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist. Das Regal ist an dieser Stelle ziemlich vollgepackt. Alle Exponate des Leidens erscheinen dabei gleichzeitig als solche der Leere. Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, sie zu beschriften. Im gemeinsamem Kontext sagen sie dem Betrachter genug.

Darüber habe ich an der Regalrückwand Fotografien angebracht. Eigentlich hatte ich sie angebracht. Sie sind verschwunden. Zunächst hatte ich sie nur umgdreht. Aber ich mochte nicht mehr auf diese weißen Flächen starren, die mir nie das Gefühl gaben, weitermachen zu können. Immer blieb mein Blick kleben und dachte an die andere Seite. Schließlich entschied ich mich in einer stark alkoholisierten Nacht die Bilder zu entfernen und sie in eine Schublade zu schieben. Beim Wegpacken fiel mir auf, dass sie bereits ganz verblichen waren. Sie wollten mir nichts mehr sagen. Hatten sie doch schon so lange weh getan und symbolisierten sich doch auch irgendwie den Urgrund dieses Schrankes selbst. Somit ist dieses Regalboden leer. Eigentlich wie ich. Relikte können mein Leben nicht erfüllen. Ich bin leer. Nicht absichtlich, eher leer gespielt.

Keiner der beteiligten wird das je verwinden können. Dafür gibt es diese Relikte. Doch ihre bloße Anwesenheit soll mich nicht länger am Fortbestand hindern. Genug Existenz wurde durch den falschen Glauben an Relikte zerstört. Der Wille war nie da dafür, es kam einfach zum Vergessen. Aber dann doch nie ganz.

1 Kommentar

  1. Kinder!

    Kinder annektieren jeden Regalboden.
    Auch die ganz oben, an die sie eigentlich nicht herankommen.
    Sie schmeißen ihren Krempel einfach rein – ohne Rücksicht auf Verluste.

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