Gehe ich durch meine Heimatstadt, schlagen mir an allen möglichen Stellen Lebensweisheiten entgegen. Sie sind an Hauswände geschrieben, in farblich passenden Lettern, schön dezent, trotzdem Aufmerksamkeit auf sich ziehend. Zwei Fragen beschäftigen mich. In den seltensten Fällen wird der Autor (sei er auch anonym) genannt. Warum nicht? Ich denke, das soll die Universalität der Aussagen unterstreichen. Mit einem Autorennamen verbindet sich irgendeine Theorie, immer eine Geschichte, die die eigene Bedeutungszuweisung unterläuft oder gar abkürzt. Doch der verallgemeinernde Charakter dieser Sätze oder Sentenzen muss sich bezugsfrei entfalten. Die zweite Frage ist die Frage nach den Verursachern. Wer kommt auf die Idee einen Malermeister samt Lehrling zu engagieren, um diese Sprüche an die Wand zu pinseln? Sind dies Kunstprojekte oder moralisch tief verankerte Hausbesitzer, die die Welt verbessern wollen? Ich wittere fast einen Skandal. Vielleicht gibt es staatliche Subventionen, wenn man eine Hauswand nicht nur weißelt, sondern sie darüber hinaus noch zu einer Projektionsfläche für Lebensweisheiten macht?

Habe ich Zeit, gehe ich gern auf die Suche nach den Verfassern. Um es kurz zu machen. Die besten Sprüche stammen aus der Antike bzw. der Spätantike. Mit ihrer Rückbindung an die Tradition der Meditation, die nicht nur die eigene Seele ermahnen soll, sondern in ihrer Allgemeingültigkeit auch die Seelen aller (Lesenden), knallen diese Sentenzen am besten. Kostprobe gefällig?

Liebe das, was dir widerfährt und zugemessen ist; denn was könnte dir angemessener sein?

Voraussetzung des Verständnisses dieser Aussage ist, zu wissen, dass der Sprecher davon ausgeht, dass man selbst mit seinem Schicksal hadert. Im Laufe eines Lebens bricht so viel Unheil über einen herein, so vieles geht schief und man fühlt sich an die Prüfungen Hiobs erinnert. Doch anstatt darüber zu verzweifeln und sich nach den Ursachen der Qualen und Leiden zu fragen, soll man sich im Innern umwenden und die Perspektive ebenso drehen. Das Leben bricht nicht einfach über uns herein. Es ist ein unendlicher Strom von Entscheidungen, die Reaktionen hervorrufen. Scheinbar geht es um das Abwägen von Optionen. Doch doch die Frage nach den Optionen im Leben ist nicht so einfach zwischen gutem und schlechtem Ergebnis zu unterteilen. Die Tatsache, dass eine Entscheidung getroffen wird und getroffen werden muss (auch wenn das „widerfährt“ hier ein passives Lebensprinzip suggeriert, sollte man das Leben – und so meint es auch der Autor Marc Aurel – als etwas Gestaltbares sehen), führt dazu, dass es nur einen einzigen wirklichen Lebensweg deiner Person gibt. Im Moment des Treffens der Entscheidung schlägt man eine Richtung ein. Die Kategorien richtig und falsch verlieren ihre Bedeutung. Sie gelten nicht mehr, da es ja im Fällen der Entscheidung nur diesen einen Weg gibt. Alle anderen möglichen Optionen werden nichtig.
Sicherlich könnte jetzt schlau Skeptiker behaupten, dass ich doch eine Entscheidung sofort revidieren kann und dann exakt das Gegenteil mache. Gut. Aber dann hast du die erste „falsche“ Entscheidung benötigt, um die zweite Entscheidung zu treffen. Dieses Motiv sein Leben in seiner Ganzheit mit alle seinen Entscheidungen, mögen sie über kurz oder lang doch indirekt kategorial zuordbar (zu gut oder schlecht) sein, zu lieben, ist ein in der Literatur häufig anzutreffendes. Auch Paulo Coelho propagiert in seinem Werk „Der Alchimist“ diese Grundeinstellung: „Das Leben ist wirklich großzügig mit dem, der seinen persönlichen Lebensweg folgt.“ Beide, Aurel und Coelho, knüpfen dabei an die menschliche Vergänglichkeit an. Das Hadern und Kritisieren des eigenen Lebens wird unzumutbar in Anbetracht der Tatsache, dass man nur ein Leben hat und dieses obendrein zeitlich begrenzt ist.

Wer jetzt diese Zeilen liest, hat vielleicht eine Ahnung dafür bekommen, warum Menschen an Häuserwände diese Sprüche kleistern…