Die dreckig-braunen Kartoffeln kochen im Topf. Mutter kommt und gisst sie ab. Ich stehe am Fensterbrett und betrachte durch den dort ansässigen Kräutergarten den Hof. Unter der Fensterreihe verläuft eine Reihe Mülltonnen. Jedem Fenster seine Mülltonne. Der Geruch zieht nur im Winter zaghaft nach oben. Im Sommer quillt er bei jedem Öffnen der rostigen Metalltonnen gen Himmel und legt sich schwer über mein Bett, dass direkt vor dem Fenster steht. In meinem Zimmer sitze ich ungern, um aus dem Fenster zu blicken. Es ist zu weit rechts, man kann die gegenüberliegende Häuserzeile kaum noch sehen. Außerdem sieht man die Bank nicht. Diese Bank scheint in unserem Hof eine Art Heiligtum zu sein. Seit ich denken kann sitzen dort jeden Sommer die dicken, alten Nachbarsfrauen und blicken jedem hinterher, der an der Bank vorbei geht. Die einzige Hofstraße, die genau dort eine Biegung macht und zu einem größeren Parkplatz führt, grenzt an und so entgeht den Frauen nichts. Weder Kinder, die sich zwischen den Autos auf dem Parkplatz herumdrücken, noch die Säufer, die aus der Kneipe rausfallen. Denn der „Pub“ hatte hier schon seit Jahren seinen inoffiziellen Hinterausgang.

Eine der dicksten und ältesten Frauen auf der heiligen Bank war Frau Mischalke. Sie lebt vermutlich in diesem Hof seit dem Krieg und gehörte zum harten Kern der Bankpatrouille. Denn auch bei schlechtem Wetter ließ sie es sich nicht nehmen, mit Steppdecke und Schlüssel in der Hand ein, zwei Stunden mit wechselnden Partnerinnen auf der Bank auszuharren und den sich mit Schirmen und Zeitungen bedeckenden Heimgekommenen nachzurufen, dass sie gefälligst nicht so rennen sollen, es sei ja schließlich glatt.

Auch ich hatte meine persönliche Erfahrung mit Frau Mischalke. Wie eigentlich jeder hier im Hof. Im Sommer nach meinem siebten Geburtstag und ich endlich das geschenkte Fahrrad auf der Hofstraße ausprobieren konnte – es war ein metalisch-grün schimmerndes Klappfahrrad, das mir ständig Angst bereitete. Der Verriegelungsmechanismus war verchromt, sah neu aus, weckte aber immer die Angst in mir, dass in den nächsten Sekunden der Riegel herausspringt und das Fahrrad entzweibrechen würde. An manchen Tagen, besonders wenn ich alleine fuhr, starrte ich ständig auf den Riegel und bebte vor Angst, wenn der Riegel durch eine Erschütterung bewegt wurde. Häufig flog ich deswegen erst recht vom Fahrrad. Brach mir einmal sogar das Handgelenk, verstauchte mir den Knöchel oder schürfte mir einfach nur die Beine am Asphalt der Hofstraße auf.

Der Tag des Aufeinandertreffens mit Frau Mischalke begann eigentlich recht entspannt. Ich durfte ausschlafen und als ich geweckt wurde, roch es in der Wohnung schon nach Kaffee und Brötchen, da Samstag war, gab es Brötchen und kein Brot zum Frühstück. Im Radio verlas ein Moderator mit ruhigem Ton die Geburtstagswünsche des Tages und es gelang ihm bei jedem -ig- oder -st- seiner Stimme einen schmatzhaften Klang zu verleihen. Das passte zum Frühstück. Irgendwie. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was ich aß. Für gewöhnlich war es aber ein Marmeladenbrötchen – vermutlich mit Erdbeermarmelade. Nach dem Frühstück zog ich meine Straßenschuhe an und bat meinem Vater, mein Fahrrad aus dem Keller zu holen. Ich selbst traute mich nicht hinunter. Zu dunkel waren die Kohlen, zu weit weg der erste Lichtschalter und zu kalt die Gänge. Mein Vater schleppte das Fahrrad in den Hausflur und gab mir den Kellerschlüssel. Wortlos drehte er sich um und stapfte gen Zeitungslektüre in das Wohnzimmer.

Ich selbst überprüfte die Verriegelung des Klappmechanismus. Es schien alles normal. Er schien fest zu sein. Ich setze mich vorsichtig auf das Fahrrad und rollte über die kleine Haustürkante. Ich spürte wie der Gummi am unteren Ende des Reifens eingedrückt wurde. Ich müsste wohl demnächst ein wenig Luft nachpumpen. Als ich aus dem Schatten des Hauseinganges kam, strahlte die Sonne und die abgestellten Autos und Motorräder glänzten und funkelten im Licht. Ich trat in die Pedale, dass Fahrrad fuhr los. Ich drehte die übliche runde im Hof. Vorbei an den Garagen, an den Tischtennisplatten, zurück zur Wäscherei und dann durch den Durchgang auf die Fußballwiese. Bei meiner zweiten Runde im Hof war die Fußballwiese nicht mehr verlassen. Zwei Mädchen aus der Nachbarschaft hatten sich auf einer Decke dort niedergelassen. Sie spielten nicht, lagen einfach auf dem Rücken und starrten in den blauen Himmel. Ich stieg vom Rad und betrat die Wiese. Das Gras war vom seit Tagen andauernden Sonnenschein schon ganz ausgedörrt. Es schien zu rascheln.

Eines der beiden Mädchen – Melanie – kannte ich. Sie wohnte mit ihren Eltern bei uns im Haus. Sie hatte einmal eine Nacht in meinem Bett verbracht und war die ganze Nacht traurig gewesen. Ihre Mutter hatte gegen halb elf ebenfalls sehr traurig bei uns geklingelt. Ich wurde wach, lag ja bereits seit halb acht im Bett. Sie hielt sich mit der einen Hand die Wange und führte mit der anderen Melanie in unseren Flur. Meine Mutter wechselte mit ihr ein paar Worte. Scheinbar ging es dem Vater von Melanie nicht gut, zumindest sagte das meine Mutter, als sie in mein Zimmer kam, das Licht anschaltete und sagte, dass ich heute nach Besuch hätte.
Melanie stand dann schließlich ratlos vor mir. Ich rückte meinen blauen Plüschbären zur Seite und sie legte sich neben mich. Sie stöhnte kurz auf und zog eine kleines Metallauto unter ihrem Rücken hervor. Es war ein gelber Porsche, bei dem das Lenkrad auf der rechten Seiten war anstatt auf der linken. Ich nahm damals häufig Autos mit ins Bett. Spielte noch kurz im Dunklen damit, sie fuhren durch wilde Hügellandschaften und schafften jede Kurve, ab und an quitschten die Reifen und Mutter kam rein und sagte, dass ich endlich leise sein sollte. Ich sollte vermutlich schlafen, so gesagt, hat sie das aber nie. Melanie duftete nach Kaugummi und Zahnpasta. In ihrem grünen Schlafanzug und mit den hübschen Halbschuhen, die sie vor dem Bett abstellte, fand ich sie damals umwerfend. Sie lag ganz steif und sagte keinen Ton. Ich drehte mich zu ihr und blickte über ihr Gesicht. Sie weinte nicht, sie freute sich aber auch nicht mich zu sehen. Ihre Augen waren offen, zumindest glaubte ich das, richtig sehen, konnte ich es aber nicht. Nach einigen Minuten drehte sie mir den Rücken zu. Ich unterließ es, irgendetwas zu sagen. Nach einer Weile muss ich eingeschlafen sein. Später in der Nacht ging die Nachttischlampe an und meine Mutter weckte Melanie, führte sie aus dem Zimmer, kam aber noch einmal zurück, um das Licht zu löschen. Mein Herz pochte. Mein Herz pochte laut als die Tür geschlossen wurde.

Die beiden Mädchen hielten sich an den Händen und redeten als ich sie erreichte. Als sie mich und meinen Schatten bemerkten, schwiegen sie augenblicklich. «Hallo Mella» sagte ich. Sie dreht kurz den Kopf zu mir, blickte danach aber wieder zu ihrer Freundin. «Du hast ein neues Fahrrad.»
«Ja. Geburtstag.»
«Und wie ist es so?»
«Ganz gut.»
Sie blickte wieder zu ihrer Freundin. Offensichtlich wollte sie nicht mit mir reden. Ich blieb aber und setzte mich im Schneidersitz zu ihnen. Ich spielte an meinen Sandalen herum. Sie beide blickten wieder in den Himmel.
«Sollen wir dir mal was zeigen?»
«Klar.» erwiderte ich ein wenig erfreut über die neuerliche Kontaktaufnahme.
«Am Pub liegt was im Gebüsch. Was ekliges.»
Mir formten sich Bilder von blutenden Fröschen und madigen Katzenbeinen im Kopf. Wir hatten hier vor ein paar Wochen eine riesige Bisamratte. Der kleine Christian hatte das tote Tier gefunden und mit einem großen Knüppel vor sich auf der Hofstraße hergeschoben. Am Klettergerüst angekommen haben wir dann alle mit Stöcken in die Ratte gestoßen. Irgendwann riss die linke Seite des Tieres auf und der kleine Christian meinte, dass man jetzt die Gedärme sehen könne «Die sind bestimmt noch warm.» Es fand sich aber keiner, der seinen Finger in das schleimig-glibbrige Zeug, das beständig aus dem Tier quoll, wenn man gegen den offenen Wanst stieß, tunken wollte. Irgendwann hatten alle genug und der kleine Christian kickte die Ratte mit dem Fuß in das Gebüsch neben der Wäscherei, wo sie vermutlich noch heute liegt. Die Blutspuren kann man heute noch auf seinen Schuhen sehen. Er gibt damit immer in der Schule an, sagt man.
Ich folgte den Mädchen auf dem Weg zum Pub. Sie hatten beide an der linken Seite ihrer Hose einen Schlüsselhalter, der aussah wie eine Telefonstrippe nur in viel leuchtenderen Farben. Die Strippen wippten mit den Hüften der Mädchen und die Schlüssel klimperten auf den Schenkeln.
Als wir an der Hinterseite des Pubs ankamen, bogen die Mädchen um die Hauswand und blieben vor einem kleinen Fenster stehen. Die Hinterseite des Pubs war von Sträuchern und kleinen Bäumen umgeben und diente jedermann als Abkürzung. Zumal es so auch einfacher war den Blicken der heiligen Bank zu entkommen, die in diesen Holz- und Blätterdickicht keinen Einblick hatte. Aus dem Fenster roch es nach Pisse und Klosteinen. Sie warteten bis ich mein Rad abgestellt hatte und zu ihnen gegangen war. Ich lehnte mich an die Hauswand und steckte die Hände in die Taschen. Melanie schob mit ihrem Fuß ein wenig Laub zur Seite, dass von den umliegenden Bäumen und Sträuchern stammte. Das Laub gab den Blick frei auf kleine, schwarze, glänzende Päckchen. Sie schimmerten wie Bonbons. Wie schwarze Colabonbons, oder so. Ich blickte die Mädchen ein wenig ratlos an. «Das sind Verhüterli.» sagte Melanie. Ich schaute auf den Haufen. Es mussten so um die dreissig oder vierzig schwarzen Päckchen gewesen sein.
«Haste wohl noch nicht gesehen, was?»
Hatte ich schon. Nur sahen die da anders aus. Auf dem Schulhof lag mal ein Zettel neben dem Treppenaufgang zu den Unterrichtsräumen und ein Gruppe hatte sich darum versammelt. Alle blickten kichernd interessiert auf die kleine bunten Zeichnungen. Richtig verstehen konnte das aber keiner. Die vielen Worte neben den Bildern waren zu unbekannt. Irgendwann kam dann eine Lehrerin und nahm den Zettel und sagte immer wieder «Das ist doch was ganz natürliches. Da braucht doch keiner Lachen.»
Ich griff in den kleinen Stapel und pickte ein schwarzes Päckchen heraus. Ich drückte mit den Fingern auf der Stanzung herum und bewegte das Innere des länglichen Päckchen von Links nach rechts und wieder zurück
«Willste mal eins aufmachen?» stichelte die Freundin von Melanie.
«Klar» sagte ich «iss doch was ganz natürliches.» Die Mädchen prusteten los.
Unbeirrt setze ich die Finger an und riss das Päckchen auf. Ein merkwürdig chemischer Duft, den ich vorher noch nie gerochen habe, quoll heraus und mit ihm ein hellrotes Verhüterli. Ich hielt es in meiner offenen Hand den Mädchen entgegen. Es war schmierig und hinterließ glänzende Stellen an meiner Hand und an meinen Fingerspitzen. Es hatte seine Form geändert aus dem rechteckigen Päckchen, in dem es länglich lag, sprang es in meiner Hand in einer kreisrunde Form. Ich fasst es mit spitzen Fingern an und schüttelte es. Zuerst blieb es unverändert, doch dann ging es ganz langsam auf. Es wurde immer länger und länger. Ich hielt es an der Spitze erneut den Mädchen entgegen. Die Freundin prustete wieder und Melanie kam ein Schritt näher. Sie betrachtete das Verhüterli wie es an den Enden meiner Finger im Wind baumelte. Ich wischte die andere Hand an meiner Hose ab und zog dann an dem Verhüterli. Ich zog und zog und es dehnte sich. Keiner von uns hatte wirklich Ahnung, was man damit machen würde. Wir wussten nur, dass wir nun im Besitz von ca. dreißig bis vierzig Verhüterli waren. Wir packten sie alle zusammen und gingen mit vollen Händen wieder um die Hauswand herum. Melanie legte die schwarzen Päckchen in ein kleines Erdloch, das am Anfang einer kleinen Wiese in unmittelbare Nähe des Pubs war. Warum es dort war und wer es gegraben hatte, wussten wir nicht. Wir schoben unsere Hände mit den Verhüterli nach und deponierten alles im Loch. Warum wussten wir nicht, aber so ein seltener Schatz muss geborgen und beschützt werden. Ich legte das offene Verhüterli oben drauf, die Erde blieb an ihm kleben und es roch noch widerlicher nach Chemie. Die Freundin von Melanie bedeckte das Loch mit Laub und Gras.
«Was macht ihr da?» Frau Mischalke stand mit einem Blumentopf und einer kleinen Schaufel vor uns. «Was macht ihr an meinem Loch?» Wir blickten uns gegenseitig an. Jeder war starr vor Angst.

Die Alte ging mit festen Tritt auf das Loch zu und schob das Gras beiseite. Sie blickte uns dabei an. Sie griff mit ihren dicken Fingern, um die sie Ringe gequetscht hatte, die nun in der Sonne glänzten, mitten in das Loch, erschrak und hob eine Hand voller schwarzer Päckchen aus dem Loch. Das rote Verhüterli hatte sich um ihren Zeigefinger gewickelt.
Sie schrie «Ihr Schweine. Sowas macht man doch nicht. Sowas macht man doch nicht.»
Wir hatten doch eigentlich überhaupt nichts gemacht. Als ich das sagen und Unterstützung von Melanie und ihrer Freundin einfordern wollte, sah ich wie die beiden wegrannten – raus aus dem Hof.
Frau Mischalke kam zu mir, packte mich an der Schulter und schob mich nach Hause. Sie schnaufte als sie die Treppe mit mir hoch stieg. Im Hausflur war es dunkel. Sie machte Licht und klingelte. Als wir warteten blickte ich sie kurz an und sah wie sie sich die Lippen leckte und kurz auf die Lippe biss. Mein Vater öffnete die Tür und hatte noch die Zeitung in der Hand. Der Sportteil war aufgeklappt. Frau Mischalke setzte an. Ich hörte weg. Mein Vater, der schon finster dreinblickte als er mich mit Frau Mischalke sah, blickte immer finsterer und sah mich kurz mit zusammengezogenen Brauen an. Sie hatte offenbar ihren Vortrag beendet, denn mein Vater zog mich aus dem Hausflur in die Wohnung. Ich setze mich auf die Diele und zog mein Schuhe aus. Mein Herz pochte. Mein Vater verabschiedete Frau Mischalke und schloss die Tür. Ich stellte die Schuhe auf ihren Platz neben den großen, schwarz glänzenden Schuhen meines Vaters. Er ging hinter mir her als ich den Flur entlanglief gerade auf meine Mutter zu, die mit einer Plastikschale in der Hand aus der Küche blickte. Mein Vater schüttelte den Kopf und berichtete meiner Mutter. Ich hörte weg. Meine Mutter blickte mich immer wieder an. Ich dachte an die Lehrerin, die sagte, dass es was ganz Natürliches sei… was ganz Natürliches.

Ich dachte jetzt folgt eine Standpauke wie es sie schon oft gab. Ich dachte an mein Fahrrad, das noch an der Mauer lehnte, ich dachte an das Erdloch, voll gefüllt mit Verhüterli, die aussahen wir schwarze Bonbons. Mein Vater setzte sich wieder in das Wohnzimmer und schaltet den Fernseher an: Nachrichten. Meine Mutter ging an den Herd und rührte in einem Topf. Ich stand am Fensterbrett und starrte durch den Kräutergarten auf den Hof, dachte immer noch an Melanie, an mein Fahrrad und an die schwarzen Bonbons. Ein Topfdeckel schepperte. Die Kartoffeln waren fertig. Mutter kommt und gisst sie ab.